Begründungen der Jury
Autor*innenpreis an Gwendoline Soublin für ihr Stück Spécimen
Ausgehend vom zermürbenden Alltag einer sechsundvierzigjährigen Frau, die in der Abteilung Fisch & Krustentiere des Supermarktes SuperGéant verkauft, befreit Gwendoline Soublin die räumliche und zeitliche Realität genauso aus ihren Zwängen wie unser entmenschlichtes Leben und das dramatische Schreiben – um uns eine Fabel zwischen ökologischem Epos und dramatischem Gedicht in der Gegenwart zu präsentieren. Die Erzählung quillt über, die Zeit dehnt sich, das „Ich“ betrachtet sich selbst und universalisiert sich, indem es zu einer „Sie“ wird; der Mensch findet seinen Platz auf der Skala der Schöpfungsgeschichte wieder, und der ist nicht sehr groß ...
In dieser eminent performativen literarischen Geste setzt sich die Metamorphose durch und verkörpert sich typografisch auf der Seite. Im Laufe des Textes werden die Qualität und die Kraft einer Schreibweise deutlich, die auf Assoziationen von Ideen und Bildern beruht. Die Sprache wird zum Subjekt und Objekt der Erzählung, indem sie unsere Beziehung zur Welt und die Herausforderungen einer ständigen Transformation, ja sogar Wiedergeburt hinterfragt. Die dramatische Struktur ist gleichzeitig fließend und unsichtbar, komplex und überraschend, ohne jemals in eine postmoderne Wiederholung zu verfallen, denn sie bleibt von einer klaren dramaturgischen und narrativen Linie gespannt, der vielfältigen Verbindung von Theater und chorischer Erzählung.
All dies ermöglicht es einem künstlerischen Team, sich den Text anzueignen und gleichzeitig die dramaturgischen Entscheidungen offen zu lassen, sei es in Bezug auf die Besetzung, die Prüfung von Standpunkten und die Beziehung zur Sprache, einem wahren Strom von Gedanken, die in sozialen Problemen und Konstruktionen verankert bleiben, die unseren Fluss von Wörtern und Worten motivieren und hinterfragen, d. h. auch die Rolle der Sprache, die in der Lage ist, sowohl das zu sagen, was existiert, als auch das, was nicht existiert, und so eine Form des Widerstands gegen eine Gesellschaft zu leisten, die zum System und zur Maschine geworden ist, um den Menschen und seine Träume zu zerschlagen.
Begründung der Jury
Übersetzer*innenpreis An Sula Textor und Pauline Fois
Für ihre Übersetzung von Gloria Gloria von Marcos Caramés-Blanco ins Deutsche
Gloria Gloria von Marcos Caramés-Blanco ist eine Herausforderung für jede*n Übersetzer*in, die/der sich daran wagt, denn die anfängliche Schreibweise ist besonders lebhaft und rhythmisch, mit abwechselnden Voll- und Leerstellen, verschiedenen Registern und Formen, um die kochende Innerlichkeit wiederzugeben, die sich in Bewegung setzt, um eine kaleidoskopartige Reise durch die Intimität zu bieten.
Die von Sula Textor und Pauline Fois vierhändig verfasste Übersetzung ist eine sehr schöne Leistung, da sie nichts von Marcos Caramés-Blancos Geste verrät und es ihr perfekt gelingt, den Realismus der Figuren, aber auch ihre dunklen Seiten und ihre Komplexität wiederzugeben. Während sie klare und entschiedene Vorschläge macht, die nie versuchen, weich mit der Ausgangssprache zu verhandeln, gelingt es dieser Übersetzung, eine seltene Genauigkeit und Feinheit zu finden, obwohl der Sprachfluss beim Autor außergewöhnlich dicht ist und sich für subtile und unterschiedliche Interpretationen anbietet, was die Übersetzung perfekt wiedergibt.
Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, ermöglicht es diese Übersetzung, die Herausforderung zukünftiger Inszenierungen anzunehmen, indem sie den Schauspieler*innen eine prägnante, musikalische Sprache im Präsens bietet. Man könnte meinen, dass das vierhändige Schreiben die Sprache undurchsichtiger machen könnte, doch das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Wenn es eine Undurchsichtigkeit gibt, dann nur, um die anfängliche Arbeit an der Sprache besser darzustellen und ihre Komplexität und Tiefe zu unterstreichen.
Publikumslieblinge
»Sternschnupfen | L’éveil du printemps» von David Paquet
»Léa oder Eine Theorie der komplexen Systeme | Léa ou la théorie des systèmes complexes« von Ian De Toffoli